Dr. Roland Held

Eröffnung der Ausstellung Beate Kuhn – Doris Kaiser

in der Galerie Metzger, Johannesberg, 6. April 2008

Überdrüssig einer zu biographisch-anekdotisch gefärbten oder bloß trocken Stilepochen abhakenden Auffassung von Kunstgeschichte, packte der deutsche Kunsthistoriker Wilhelm Pinder die Sache einmal anders an. In seinem 1926 erschienenen, damals vielbeachteten Buch „Das Problem der Generation“ unternahm er es, die Geschichte der Kunst zu betrachten als dynamische Abfolge von Geburtsjahrgangsgruppen, denen bestimmte Grundstimmungen, -prägungen und -aufgaben gemeinsam waren, typisch nur für sie, was sie klar abhob von den Geburtsjahrgangsgruppen, die ihnen vorausgingen und nachfolgten. Versuchen wir, meine sehr verehrten Damen und Herren, Pinders Modell einmal zu übertragen auf Beate Kuhn und Doris Kaiser! Denn beide sind getrennt durch ziemlich genau jenen Dreißigjahreszeitraum, den man eine Generation zu nennen pflegt. Oder, um es anders auszudrücken: Beate Kuhn, gerade mal ein Jahr jünger als besagtes Buch, könnte gut und gerne die Mutter von Doris Kaiser sein, die ja 1958 geboren wurde. Auf den ersten Blick bestätigen die Werke dieser Ausstellung die Unterschiede zwischen zwei Künstler-Geburtsjahrgangsgruppen geradezu exemplarisch, trotz oder vielleicht sogar wegen der Tatsache, daß in beider Schaffen der Werkstoff Ton eine bzw. die zentrale Rolle spielt. Hier die übersprudelnde Formenfülle und Farbenvielfalt der keramischen Plastiken von Beate Kuhn. Dort die asketische, fast puristische Reduktion der Formen auf das Rechteck, die Beschränkung auf Weiß und helle Erdtöne bei Doris Kaiser und ihren Objekten. Wo Beate Kuhn ihre Phantasie munter ins Kraut schießen läßt, stutzt Doris Kaiser kühl mit der Gärtnerschere zurück. Während das Ideal der einen im wuchernden Dickicht zu liegen scheint, hält die andere das sorgfältig getrimmte Beet hoch. Hier Naturästhetik, offenkundig inspiriert an allerlei biologischen Arten, je bizarrer, desto lieber, dort Kulturästhetik, wenn man darunter das Bekenntnis zur rational geordneten Welt des Menschen versteht. Womöglich gar, philosophisch gesprochen: hier das Werden, dort das Gewordene...

Aber längst sind wir an dem Punkt angelangt, wo die selbstgewissen Ausrufezeichen sich zu Fragezeigen krümmen und wo die superscharf gezogenen Trennlinien zwischen Werk und Werk sich etwas verwischen. Denn auf den zweiten, auf den dritten Blick dämmert uns, daß der Anteil an Irrationalem, Unerklärlichen, Geheimnisvollen an den Kaiser’schen Objekten größer ist als zunächst gedacht und daß hinter den in keine bekannte Kategorie von Pflanze, Tier oder Gebrauchsgegenstand passenden Kuhn’schen Plastiken unerwartet viel Systematik steckt.

Wenden wir uns also einzeln den Künstlerinnen zu. Denn das sind sie – trotz der keramischen Dimension haben ihre Schöpfungen mit Kunsthandwerk nichts zu tun. Tatsächlich haben wir mit Beate Kuhn eine der ersten Keramikerinnen Deutschlands vor uns, die – und zwar Mitte der sechziger Jahre – nach gediegenster Ausbildung  und trotz professionellen Erfolgs und offizieller Auszeichnung durch Preise die Gefäßkeramik aufgab zugunsten der freien Gestaltung. Ihr Oeuvre, das über anderthalbtausend Stücke zählt, umfaßt auch im engeren Sinne figürliche Arbeiten, etwa die höchst eigenwilligen Katzen, ein Motiv, zu dem sie immer wieder zurückkehrt. Vorrangig identifiziert freilich wird sie über jene anderen Werke, die beherrscht sind von an der Natur angelehnten, allgemeineren Gebilden, kleineren Formelementen, die sich oft mehrdutzendfach in gleichsam zellularer Ordnung zusammenfinden, um gemeinsam eine Großform zu ergeben. Weswegen man die Kuhn’sche Vorgehensweise auch seriell bzw. additiv genannt hat. Von Werk zu Werk wechselnd können die Elemente Raupen, Rüsseln, Pilzen, Trichtern, Posaunen, Fahrradlenkern, Löffeln, Linsen, Erdnüssen, Makkaroni, Muschelschalen ähneln. Die Großform kann elementar sein oder komplex, und im Zweifelsfall fällt uns nicht nur ein Bezugspunkt aus der Natur ein, so wie Koralle oder Druse oder Krustentier, sondern deren gleich mehrere. Stilistisch ließe sich  reden von „organischer Abstraktion“,was durchaus auf der Kunstszene umging in den fünfziger, sechziger Jahren, die für Beate Kuhns „Geburtsjahrgangsgruppe“ – um den Begriff von Pinder wieder aufzugreifen – gewiß die prägendsten waren. Ein Klassiker der Moderne wie Jean Arp schritt voran mit Aussprüchen wie diesem: „Der Inhalt einer Plastik muß auf Zehenspitzen, ohne Anmaßung auftreten, leicht wie die Spur eines Tieres im Schnee. Die Kunst soll sich in der Natur verlieren. Sie soll sogar mit Natur verwechselt werden. Nur darf dies nicht durch Nachahmung erreicht werden, sondern durch das Gegenteil des naturalistischen Abmalens, Abbildens.“ Man könnte die Arp’sche Ermahnung auch zusammenfassen mit einer anderen Devise, die damals im Schwange war: „Nicht nach der Natur, sondern wie die Natur!“

In einer wichtigen Beziehung ist diese Urheberin von Plastiken Töpferin geblieben: nach wie vor fertigt sie ihre Rohelemente als Hohlkörper an der Drehscheibe, bevor sie sie in Segmente zerschneidet, bereit zum Montiert- und Kombiniertwerden. Was sorgfältig durchdacht sein will, damit hinterher alles an seinem Platz ist und das Ganze auch über die nötige Stabilität verfügt. Die Resultate in Steinzeug, gelegentlich auch Porzellan, verdanken ihr Kolorit nicht nur der Glasur oder Engobierung, sondern seit einigen Jahren auch bloßen Pigmenten. Je nach formaler Notwendigkeit wird die Farbe eingesetzt bald auf Kontrast, bald auf zarteste Übergänge und Verläufe hin. Man kann das gut studieren anhand von Beate Kuhns jüngster Werkserie mit ihren schwarz-blau gesprenkelten, aber auch mal türkisgrün oder krabbenrosa gehaltenen Elementen. Mir kommt es übrigens vor, als wolle die Künstlerin mit dieser Serie mit vier Jahrzehnten Abstand ihre Ursprünge aus dem Handwerk und dessen Funktionsware thematisieren und gleichzeitig persiflieren. Durchgehend stoßen wir auf den Rundbecher, ja den ziemlich bescheidenen Topf. Ihm als Hülle und Sockel entquellen seltsame Gewächse, halb Gurke, halb Knolle, mit grotesken Nasen, Schnäbeln, Tentakeln – oder wie man derart Protuberanzen sonst nennen will, einerseits weich, andererseits spitz. Sie hängen über den Becherrand, als müßten sie ihr Umfeld, weil blind, gründlich beschnuppern. Vereinzelt strecken sie ein plumpes Füßchen heraus, zum ersten vorsichtigen Bodenkontakt. Im Vergleich mit den vielteiligen Werken, ihren diffizilen Schichtungen, ihrer wellenartig anschwellenden Bewegung wirken die Stationen der Serie clownesk simpel und anrührend direkt. Könnte es sein, daß Beate Kuhn damit einfach über Blumentöpfe und ihren Inhalt freischweifend assoziiert? Mag sein, falls jemand unter uns seine Gärtnereinkäufe auf dem Mars oder der Venus zu erledigen pflegt!

Nach dem Gezwitscher und Geschnorchel, das jedem, der Plastiken statt nur zu sehen auch zu hören vermag, entgegenschlägt von den Kuhn’schen Geschöpfen, ist es Stille, die ihn vor den Kaiser’schen Objekten empfängt. Eine Stille, vielleicht darauf angelegt, ansteckend zu sein und auch den Betrachter still zu machen. Was mag die Urheberin wohl dazu geführt haben? Doris Kaiser hat es früh an den Niederrhein geführt, genauer gesagt nach Krefeld, wo sie in den achtziger Jahren studierte. Das ist das Herzland von Joseph Beuys, des Vorkämpfers des „erweiterten Kunstbegriffs“. Etwas davon könnte abgefärbt haben auf das Grenzgängerische dieser Wand-, Sockel- und Bodenobjekte, ihre Weigerung, sich rückstandslos in eine traditionelle Kunstgattung zu fügen, ihr Changieren zwischen Relief und Architektur und Plastik und manchem mehr. Am Niederrhein tummelten sich allerdings, schon vor Beuys’ komentenhaftem Aufstieg, die Mitglieder der Gruppe Zero. Deren Bestrebungen zielten auf eine Bereinigung des Kunstwerks von den Exzessen des Subjektiven, des Expressiven und Psychologischen in der Kunst. Stattdessen ging es ihnen um eine Erforschung des Eigenausdrucks der Farbe und des Materials, speziell im Dialog mit der Lichtschwingung der Umgebung. Zero-Erbe im Schaffen von Doris Kaiser könnte ihre emotionale Verhaltenheit sein, ihr demonstratives Zurschaustellen der verwendeten Werkstoffe, generell ihr Purismus und vor allem ihre Vorliebe für das Weiß und dessen Brechungen. „What you see is what you get“ – ein Motto, das über den Kaiser’schen Objekten stehen könnte.

Aber was sehen wir wirklich? Flachquader, die zueinander im Verhältnis von Anstoß, Verschiebung, Stufung, Vorblendung, Einbettung stehen, mit Scheiben, die manchmal zu schweben scheinen. Sämtlich, inklusive die unter ihnen, die aufgesockelt sind, breiten sie nicht den üblichen Bannkreis der Kunst um sich. Wie eigentümliche Gehäuse oder Möbel-stücke vielmehr teilen sie sich mit uns den gemeinsamen Raum. Auf den zweiten Blick erkennt man dann die Feinheiten und Differenzierungen: das kühle Weiß des Gipses, selber von nahem leicht schwadig, gegen die warm-gelblichen oder leicht rosigen Nuancen des gebrannten Tons und, damit einhergehend, plane Fläche gegen Mulde, Glätte gegen handschriftliche Rauheit, ja Fingerspuren. Einmal hat sich der Finger tief in die Ecke eines Feldes eingebohrt wie eine Künstler-Signatur. Augenfällig auch das Widerspiel von Licht- und Schattenzonen. Weiter kontrastieren an den Wandplastiken klar voneinander abgetrennte Bereiche, die uns abweisen, sozusagen aussperren, mit solchen, die uns auffordern, nun ja, nicht direkt einzutreten, aber uns doch darauf einzustellen, daß es hinter ihrer Oberfläche weiter geht. Im Extremfall meinen wir, halb aufgezogenen Schubladenschränkchen gegenüberzustehen. Anderswo lassen exakte Spalten und Schlitze einen Innenraum vermuten; zeichnerische Ritzungen durchziehen die Haut der Tonmasse, teilen sie in Felder ein; und das tun sie mal als Gerade, mal als sachte Kurve, die wiederum dem Schwung der Mulde antwortet. Was immer es mit diesen Eingriffen auf sich hat – sie lockern die Flächen auf und wahren dabei, zwanglos harmonisch, proportionale Verhältnisse. Wenn man schlagartig der Korrespondenzen gewahr geworden ist, die die Kaiser’schen Objekte bereitwilligst aufnehmen mit dem Gebälk dieser wunderbar hergerichteten alten Fachwerkscheune, dann kann man sich unschwer vorstellen, daß Gestaltung im Kontext realer Architektur und ausgreifende Kunst am Bau diese Künstlerin reizen muß, auch wenn ihre freien Arbeiten, selten breiter als eine Armspanne, sich ganz ans menschliche Maß halten.

Angesichts der keramischen Plastiken in ihrer spröden Schönheit stellen sich neben weltlichen auch sakrale Assoziationen ein: Reliquienschreine, Tabernakel, Klappaltäre. Behälter, um deren Inhalt wir ahnen, auch wenn er nur zu raren Gelegenheiten enthüllt wird. Eindeutig zu definieren ist er jedoch nicht. Eigentlich sind wir hiermit, wie zufällig, auf die große, generationenüberspannende Gemeinsamkeit zwischen den Beiträgerinnen dieser Doppelschau gestolpert, gewichtiger noch als ihre Beziehung zum Werkstoff Ton. Statt mit Gefäßkeramik befassen sie sich auf einer höheren Ebene mit der Problematik der Gefäßform, mit der Dialektik von Konkav und Konvex, Innen und Außen, Verbergen und Enthüllen, nebenbei auch mit der Gratwanderung zwischen Symmetrie und Symmetriebruch. Beide loten sowohl echte wie auch bloß suggerierte Raumtiefe aus mit Werken, deren Erscheinung sich je nach Standpunkt des Betrachters verändert. Und beide bewegen sich jenseits der üblichen Kunstgattungen, gleichsam außerhalb der Zunft.

Im Reiche Kuhn und Kaiser, in dieser temporären K.-und K.-Doppelmonarchie, sind die staunenden Untertanen, sprich: wir, meine Damen und Herren, konfrontiert mit Arbeiten, die sich, mal lebhafter, mal leiser, primär sinnlich bemerkbar machen. Sie fesseln uns wie Musik. Doch wie bei dieser ist ihre Botschaft nicht 1:1 in unsere Sprache der verbalen Konventionen und Begriffe zu übertragen. Wer das dennoch versucht, etwa vor Beate Kuhns andersweltlichen Pflanztöpfen, der wird scheitern so wie der Adressat jenes Epigramms von Friedrich Schiller, das da lautet: „Was bedeutet dein Werk, so fragt ihr den Bildner des Schönen./ Frager, ihr habt nur die Magd, niemals die Göttin gesehen.“ Das Wesentliche an den, in den, hinter den Kunstwerken unserer Zeit bekommen wir nicht schlüsselfertig geliefert. Jeder muß es für sich selber auffüllen. So auch mit den hermetischen Objekten von Doris Kaiser. Gewiß sind es Behälter, doch tatsächlich thematisiert wird weniger ein Stück konkreter Phantastik, das sie in sich bergen mögen. Zielführender ist es, wenn unsere Gedanken zu kreisen beginnen um die Grundtatsachen von Behälter- oder Inhalt-Sein. Letztlich werden unsere eigenen Gefühle und Projektionen, werden wir selbst der Inhalt. Als wollte er direkt an den Klassiker Schiller, nur 13 Jahre älter, aber eindeutig der vorangegangenen Geburtsjahrgangsgruppe angehörig, anknüpfen, schmiedete der frühverstorbene Romantiker Novalis seinen eigenen Zweizeiler: „Einem gelang es – er hob den Schleier der Göttin zu Sais -/Aber was sah er? Er sah – Wunder des Wunders – sich selbst.“                                                               ©   Dr.Roland Held Darmstadt 2008